Christoph Schwabe

Dem Musiktherapeuten, Musiker, Maler und Autor zum 90. Geburtstag

von Thomas Schinköth

Akademie für angewandte Musiktherapie Crossen Sitz Posterstein

Dieses Foto weckt in mir Heimatgefühle. Der Raum mit den Musikinstrumenten, dem Cembalo und dem großen Gemälde von Christoph Schwabe gehört zur Crossener Akademie für Angewandte Musiktherapie, die sich seit Oktober 2020 im thüringischen Posterstein befindet, einem Ort, der eng mit dem Schriftsteller Hans Fallada (1893–1947) verbunden ist. Für drei Jahre habe ich dort jeden Monat ein Wochenende verbracht, um mit rund 20 Mitstudierenden zu beginnen, das musiktherapeutische Handwerk nach dem Konzept von Christoph Schwabe zu erlernen und mich dabei selbst neu zu entdecken. Es war etwas Besonderes, zu unterschiedlichsten Jahreszeiten mit ihren individuellen Stimmungen anzukommen und dann immer wieder einzusteigen in den Gruppenprozess, der verbunden war mit vielfältigen und vor allem prägenden Selbsterfahrungen, die intensiv nachwirken und immer wieder neue Lebenstüren öffnen.

Dass ich mit Ende 50 noch einmal eine Ausbildung aufnehmen würde, hatte zunächst einen äußeren Impuls. Im Herbst 2019 begegnete ich Christoph Schwabe in Leipzig zum ersten Mal persönlich. Ich hatte dem vielseitigen Künstler, Wissenschaftler, Pädagogen und Autor geschrieben, weil ich gerade seinen Band über die Orgeln der 1968 gesprengten Leipziger Universitätskirche gelesen hatte. Wie sehr hatte mich dieser Band bewegt. Wir sprachen dann zwar wenig über dieses Thema. Zu schmerzlich war die Erinnerung: »Ich kann dieses Ereignis nur verdrängen, überwinden kann ich es nicht.« Aber es entstand ein so warmherziges Gespräch über Lebensaspekte, wie ich sie oft noch nicht gesehen hatte. Über Kommunikation, Begegnungen, die einzigartige Atmosphäre von Gärten, die komplexen Vorgänge des Improvisierens und wie sehr jede Lehrstunde eine Uraufführung bedeutet. Man müsse immer wieder »leer« sein, sich neu einlassen auf die Menschen. Immer wieder entstehe ein neuer Prozess. Und ich erlebte seinen herzlichen Humor. Zu Beginn schon überreichte er mir – als Geschenk – drei seiner zahlreichen Bücher: Das Jahr 1991 und der weite Weg der Musiktherapie, 40 Jahre Schmiedeleben und das Wahrnehme-Übe-Buch. Das Gespräch endete, als die Backfiliale schloss, mit dem Angebot eines Buchprojektes über die Entwicklung seines musiktherapeutischen Konzeptes, das zu den zeitlosen Leistungen aus der DDR gehört, bis heute immer wieder neu ausdifferenziert und weiterentwickelt, in vielfältigen Bereichen bewährt, mit fundiertem theoretischen Hintergrund. Ich solle mir Zeit nehmen, es zu entscheiden.

So begann ich erst einmal mit der Lektüre der mitgebrachten Literatur. Das Wahrnehme-Übe-Buch begann mich bald durch den Alltag zu begleiten. Ich las nie viel, sondern ließ mir Zeit zum Vertiefen. Dann begann ich, eigene Beobachtungen zu notieren. Es wurde bisweilen sogar zu einem Ritual am Tag, mir Zeit zu nehmen zu dem, was mir viel später unter dem Begriff »akzeptierendes Wahrnehmen« bewusst wurde. In dem Schmiedebuch, das einer Abenteuergeschichte glich, blieb ich immer wieder bei einer Reproduktion hängen. Diese zeigt eine Winterlandschaft, nicht irgendeine, sondern den Blick zur Schmiede. Ein Fenster ist erleuchtet. Das Licht wirkt warm und spiegelt seinen Schein im frischen Schnee. Noch nie hatte ich so gemalten Schnee erlebt. Er wirkte zum Greifen nahe, hatte für mich eine haptische Komponente. Es war für mich weniger ein äußeres als ein inneres Bild. Inzwischen habe ich es für meine Kolleginnen im Seniorenbüro gekauft. Es begleitet uns auf unserer gemeinsamen Arbeitsstelle.

Christoph Schwabe: Monatsbild Januar
Christoph Schwabe

[Leipzig] … hatte eine besondere
Atmosphäre. Da war einerseits
der Geruch, der je nach
Wetterlage schwankte, da war
aber vor allem diese reiche, gewachsene
Kultur, die geistige
Unabhängigkeit ermöglichte.

»Das Jahr 1991« entdeckte ich für mich, je mehr ich darin las, als eine der spannendsten Zeitgeschichten des 20. Jahrhunderts, zumal Leipzigs. Was für ein vielfältiges Leben wird darin geschildert – oft zwischen den Stühlen, mit vielen Facetten, dem Sowohl-als-Auch von gelebter Zeit, mit Hoffnungen und Enttäuschungen. Und immer wieder mit Katastrophen, die zur Quelle neuer Möglichkeiten wurden.
In einem seiner letzten Bücher, »Lebensort Herbstgarten«, lese ich gerade von Hermann Hesse, einem für Christoph Schwabe prägenden Dichter: »Bereit zum Abschied sein und Neubeginne…«

Was für ein Leben: 1934 in Rabenstein bei Chemnitz geboren, erlebte Christoph Schwabe drei Gesellschaftssysteme. Früh schon begeisterte er sich für die Orgel und es entstand eine lebenslange Liebe zu diesem Instrument. Aber auch das Malen wurde ihm zum Ausdrucksbedürfnis. Er erinnerte sich an die 5. Klasse seiner Rabensteiner Schule. Der Klassenlehrer, der aus russischer Kriegsgefangenschaft kam, bot sechs Stunden Malen pro Woche: »Was malten wir? Erlebten Krieg! Wir durften, wir sollten malen, was uns auf der Seele brannte. Das war für mich der Beginn: Malen als notwendiges Loswerden von Erlebtem. Malen als Lebensgestaltung.« Zugleich wurde ihm klar, dass er mit dem, was er so liebte, nie seinen Lebensunterhalt verdienen wollte. Schließlich nahm er ein Schulmusikstudium in Leipzig auf. Leipzig war für Christoph Schwabe damals »ein magisches Wort«. 1950 hatte er die Stadt erstmals besucht und zum Bachfest die Thomaner unter Günther Ramin mit der berühmten h-Moll-Messe erlebt. Ein überwältigender Eindruck blieb ihm in Erinnerung. Die Stadt hatte eine besondere Atmosphäre. Da war einerseits der Geruch, der je nach Wetterlage schwankte, da war aber vor allem diese reiche, gewachsene Kultur, die geistige Unabhängigkeit ermöglichte. Unvergessen sind Erlebnisse in der Thomaskirche und im Gewandhaus, die legendäre Kunstbuchhandlung von Kurt Engewald in der Klostergasse und das nicht weniger sprichwörtliche Musikaliengeschäft von Botho Becker, der nahezu alles beschaffen konnte, was die Musikwelt bot und Studenten oft einen Rabatt einräumte.

Christoph Schwabe: Zerfliesse mein Herze

Zunächst war die Schulmusik an der Musikhochschule verankert, die in politisch komplizierten Zeiten eine Oase bildete. Er fand dort vielfältige Anregungen, die oft andere waren, als sie andere Studierende suchten. So interessierte er sich für offenes Singen, für Fragen der Lehrer-Schüler-Beziehungen, unterschiedliche Rollen, überhaupt für die soziale Komponente der Musik. Und welches Erlebnis war es, bei dem Universitätsorganisten Robert Köbler, einem herausragenden Improvisator und Interpreten, der sich nie auf Routine verließ, sondern immer wieder die Leidenschaft des Augenblicks suchte.

Das vergleichsweise freie Klima änderte sich, als die Schulmusik-Ausbildung an die Universität wechselte. Ständig wurden Bekenntnisse gefordert. Die studentische FDJ-Leitung übte dort eine große politische Macht aus. Wozu dies führen konnte, erlebte Christoph Schwabe kurz vor dem Ende seines Studiums. Er hatte sich intensiv mit dem Zusammenhang von musikalischen Formen und sozialen Formationen befasst, der ihn zeitlebens beschäftigen sollte, und seine Diplomarbeit vorfristig abgegeben. Zugleich war er kaum noch in Vorlesungen gegangen, die ihn nicht interessierten. Es folgten ein Wandzeitungsartikel »Ein sozialistischer Student?«, eine FDJ Vollversammlung – von der Art eines Tribunals, wie er sie noch öfter erleben sollte – und schließlich ein strenger Verweis wegen »Bummelei« und »unklarer politischer Haltung«. Die Berufslenkungskommission ordnete an, Christoph Schwabe solle sich in der Produktion »bewähren«.

Aber es gab auch, wie Christoph Schwabe schreibt, den »Kontrapunkt« zu dieser Entwicklung, der mitgedacht und mitgefühlt werden muss, will man ein Bild dieser Zeit gewinnen. Es ist wie in der Musik, die Christoph Schwabe so liebt, sie entsteht aus den kontrapunktischen Wirkungen als einem vielschichtigen Lebenssystem. Zu dieser anderen Seite von DDR-Alltag gehörte die Kultur der Hauskreise und Hauskonzerte sowie der offenen Singveranstaltungen in kirchlichen Kreisen. Und auch die Universität bot Inseln, auf denen ein anderer Geist lebte als Parteidiktatur. So besuchte Christoph Schwabe die Vorlesungen bei dem Musikwissenschaftler Heinrich Besseler, die Anregungen boten zu einer »soziologisch-funktionalen Betrachtungsweise von Musik«. Und er spielte im Collegium musicum unter Hans Grüß mit, einem Ensemble für die Aufführung Alter Musik. Aber was heißt Alte Musik: Ingeborg Stein, die Christoph Schwabe damals kennenlernte und bis zu ihrem Tode eine »Streitfreundin« blieb, drückte es so aus: »Es gibt keine alte und neue, sondern nur gute und weniger gute Musik, und das Kriterium dafür liegt allein in der Nachhaltigkeit, mit der sie über alle Zeiten und Meinungen hinweg zu beeindrucken vermag. Gängige Schulweisheiten und Ideologien waren damit für uns für alle Zeit außer Kraft gesetzt.«

Hans Grüß war es auch, der Christoph Schwabe 1960 an die Leipziger Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie vermittelte. Dort fand er – nach dem Studium mit Berufsverbot belegt – eine Anstellung als Musik- und Arbeitstherapeut.
An der Psychotherapeutischen Abteilung wirkte eine junge Oberärztin, die Pfarrerstochter und SED-Mitglied war und engagiert ein außergewöhnliches Psychotherapiekonzept aufzubauen suchte, das bis heute Maßstäbe setzt. In einem interdisziplinären Team sollten unterschiedlichste Behandlungsformen eng miteinander verzahnt werden, ausgehend von subtilen Diagnosen. Jeder Patient brauche eine individuelle Mischung von verbalen und nonverbalen Methoden, war Christa Kohlers Grundsatz. Mit anderen Worten: Jeder Patient bekam einen eigenen Therapieplan. Dabei stand die menschliche Seite im Mittelpunkt, die »Zuneigung zum Menschen«, das »Vermitteln von Geborgenheit«.

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Erschienen in der JUST FOR SWING GAZETTE No. 46 | Dezember 2024, S.4-9