Das musiktherapeutische Konzept nach Schwabe
Musiktherapie ist ein Angebot für Menschen, deren psycho-soziale Existenz aus dem Gleichgewicht geraten ist. Sie leiden unter Wahrnehmungs- und Beziehungsstörungen und unter der mangelnden Fähigkeit, den Anforderungen des Lebens selbstbestimmt und kreativ zu begegnen. Diese Probleme können sich in vielfältigen Krankheiten niederschlagen, beeinträchtigen aber auch Menschen, die im herkömmlichen Sinne nicht als krank gelten, sich aber auch nicht gesund fühlen.
Als so genannte handlungsorientierte Form der Psychotherapie bietet Musiktherapie die Möglichkeit, vorhandene Defizite in einer tragfähigen therapeutischen Beziehung wahrnehmen und reflektieren zu lernen und allmählich neue, gesündere Erlebens- und Verhaltensweisen zu entwickeln. Wie in jeder Form der Psychotherapie ist dabei die Beziehung der wichtigste Wirkfaktor. Viele psychotherapeutische Verfahren sprechen den Menschen als denkendes, reflektierendes Wesen an. Musiktherapie spricht den Menschen primär als soziales, handelndes Wesen an. Sprechen, Denken, Reflektieren sind zugeordnet und dienen der Bewusstmachung des Erlebten. Ist die Denk- oder Sprechfähigkeit eingeschränkt, hat der Handlungs- und Erlebnisprozess allein einen therapeutischen Wert.
Musik als elementares Ausdrucks- und Kommunikationsmittel hat therapeutische Potenzen, wirkt aber nie von sich aus therapeutisch. Oft spricht Musik die emotionalen Bereiche des Menschen schneller an, als Worte das können. Soll eine Verbesserung nachhaltig sein, nutzen jedoch weder „Musikalische Hausapotheken“ noch „heilsame Klänge oder Töne“. Dazu sind „Mensch“ und „Musik“ viel zu komplexe Phänomene. Nur über verantwortliche und gezielte therapeutische Impulse können sowohl Musik-Machen als auch Musik-Hören einen therapeutischen Wert bekommen. Es geht nicht darum, Menschen mit Musik zu behandeln, sondern es geht darum, dass Menschen mit Hilfe von Musik selbst handeln. Dabei werden bewusst nicht nur die defizitären Seiten in den Blick genommen, sondern in gleicher Weise auch die Ressourcen, die jeder Mensch besitzt – auch der schwer beeinträchtigte.
„Jeder Patient braucht eine für ihn zugeschnittene Mischung aus verbalen und nonverbalen handlungsorientierten Verfahren.“ Unter dieser Prämisse baute die Chefärztin der Abteilung Psychotherapie an der Leipziger Universitätsklinik Christa Kohler ab 1960 ein komplexes therapeutisches Behandlungssystem auf, das wegweisend war und heute noch ist.
Innerhalb von 10 Jahren entwickelte Christoph Schwabe an dieser Klinik die nonverbale Therapieform – ein komplexes System der Musiktherapie, das vielfältige Methoden umfasst:
Instrumentalimprovisation
Improvisation heißt, ohne Vorbereitung aus dem Augenblick heraus unmittelbar zu handeln. Wenn Menschen mit einfachen Instrumenten in einer Gruppe improvisieren, dann entsteht nicht nur eine spontane Musik, es geschehen auch Begegnungen untereinander, allerdings nicht mit Worten, sondern über Klänge, Töne, Rhythmen, aber auch über Blicke, Mimik und Gestik. In dieser nonverbalen sozialen Interaktion kann man Erfahrungen machen, die man auch aus dem Leben „draußen“ kennt. So ist die Improvisationsgruppe eine Art „soziales Laboratorium“. Im anschließenden Gespräch können Erlebnisse in der Begegnung mit Anderen reflektiert und deren emotionale Bedeutsamkeit bzw. Problematik allmählich bewusst werden. So kann sich ein geschützter Erfahrungsraum eröffnen, in dem sich nach und nach neue, gesündere Erlebens- und Verhaltensweisen entwickeln können, wie z. B. Nähe-Distanz-Regulierung, Auseinandersetzungsfähigkeit, Rollenflexibilität, Kooperationsfähigkeit, emotionale Regulation und Impulskontrolle.
Auch die Förderung von Ressourcen und die Entwicklung individueller Kreativität sind wichtige Anliegen der Instrumentalimprovisation.
Bewegungsimprovisation nach „klassischer“ Musik
Diese Methode besitzt einen hohen Grad an Herausforderung, weil sie auf das intimste des menschlichen Ausdrucksgeschehens zielt: auf seine Körperlichkeit. Es gibt keine Hilfsmittel, wie Instrumente, und es gibt auch keine verbindlichen Orientierungen wie Tanzschritte. Es gibt nur den Menschen, der angeregt wird, während des Musikhörens innere emotionale Bewegung über seinen Körper nach außen zu bringen. Dabei geschieht anfangs oft erst einmal – nichts. Doch auch dieses „Nichts“ ist es wert, angeschaut zu werden. Alle körperlichen und emotionalen Bremsen, wie Scham oder Druck, zeigen den momentanen Ist-Zustand und sind Ausgangspunkt für allmähliche Veränderungen. Dann haben auch körperliche Blockaden und Fehlspannungen eine Chance zur schrittweisen Auflösung. Es wird keine Musik verwendet, die zum Tanzen anregt, sondern bewusst Musik, die zu keinerlei äußerem Anlass komponiert wurde, sondern einzig und allein Ausdrucksgeschehen eines Menschen (Komponisten) war bzw. ist. Die Anführungszeichen bei „klassisch“ sollen darauf hinweisen, dass es für diese Art Musik zwar Schubladen gibt, die in der Musiktherapie aber keine Rolle spielen. Mehr kann und soll an dieser Stelle nicht dazu gesagt werden.
Gruppensingtherapie
Singen in der Gruppe ist die ideale Verbindung körperlicher, geistiger, seelischer und sozialer Aktivierung schlechthin. Es geht dabei nicht um Chorsingen, Einstudieren oder Leistung, sondern es geht um einen offenen Raum, in dem Menschen ihre Wünsche und Vorschläge zum gemeinsamen geselligen Singen und Gestalten einbringen können. Lieder sind dabei eine Art „Gefäße“, die emotional bedeutsame Inhalte und Kontexte oft lebenslang aufbewahren. So können z. B. längst vergangene Erlebnisse auftauchen und die damaligen Gefühle aktuell lebendig werden. Die Gruppe dient dabei als Schutz- und Anregungsraum. Singen ist z. B. eine wunderbare Möglichkeit für Menschen mit Demenz, denn das Langzeitgedächtnis ist oft voll intakt. Sie leuchten beim Singen ihrer alten Lieder geradezu auf. Auch für Menschen, die durch neurologische Ereignisse ihre Sprache verloren haben, ist Gruppensingtherapie eine große Chance. Beim Singen ist ihnen die Sprache zugänglich; sie hören sich endlich wieder selbst und erleben Gemeinschaft – im neurologischem „Reparaturbetrieb“ ein Labsal. Damit Gruppensingen seine wahren Möglichkeiten in der Therapie entfalten kann, bedarf es einer sehr kompetenten, einfühlsamen Leitung. Dies kann man nicht mal so nebenbei machen, sondern es braucht eine handwerklich fundierte und eine gründliche sozial-emotional reflektierte Ausbildung.
Tänzerische Gruppenmusiktherapie
Anders als bei der Bewegungsimprovisation gibt es bei Tänzen eine Struktur durch vereinbarte Gestaltungselemente, die von eigenen Entscheidungen und seelisch-körperlichen Hemmungen entlasten kann. Die Aufmerksamkeit ist nach außen gerichtet, und in der Synchronisation mit Anderen gelingen manche Bewegungen, zu denen allein der Mut fehlt. Es entsteht eine körperliche Mobilisierung des Einzelnen im Schutz der Gruppe. Nähe und Distanz zu Anderen, auch zum anderen Geschlecht, können innerhalb der Tanzstruktur erprobt und dabei eigene Möglichkeiten und Grenzen erfahren werden. Die verwendete Musik ist zum einen Tanzmusik verschiedenster Epochen und Länder, zum anderen aber auch komponierte Konzertmusik wie in der Bewegungsimprovisation. Hier wird die Tanzgestaltung durch Ideen der Teilnehmer selbst mitentwickelt.
Bildgestalten mit Musik
Bildgestalten mit Musik ist mehr als Malen mit Musik, weil die verwendeten Materialien vielfältiger sind und weil der Gestaltungsaspekt der wesentlichste Faktor in diesem Geschehen ist. Jeder Mensch ist existenziell darauf angewiesen, sich gestaltend in der Welt zu erleben. Das hat primär nichts mit Kunst zu tun, sondern mit individueller Kreativität, Urheberschaft und Selbstwirksamkeit. Anliegen dieser Methode ist es, Menschen zum eigenen Wahrnehmen und Gestalten zu ermutigen, trotz Einschränkungen, Behinderungen oder seelischer Probleme. Insofern zielt diese Methode direkt auf die Ressourcen, die allerdings oft verschüttet sind und behutsam geweckt werden müssen. Die Musik dient dabei zur Stimulierung von Bewegungsimpulsen der Hand, aber auch zur Anregung emotionaler Prozesse. Sie ist eine Art „akustische spanische Wand“, muss aber nicht zwingend dabei sein. Beim Bildgestalten in der Natur geht es vor allem um Wahrnehmungserweiterung und Auseinandersetzung mit der äußeren Realität, die nicht abgebildet, sondern individuell verarbeitet und gestalterisch ausgedrückt werden soll.
Regulative Musiktherapie (RMT) und Wahrnehmungstraining mit Musik
Die Bezeichnung „Regulative Musiktherapie“ legt nahe, dass Musik etwas reguliert, was dem Patienten/Klienten aus dem Ruder gelaufen ist, und dass sie entspannt oder harmonisiert. Diese Hoffnung auf „Musik als Tablette“ muss in der Therapie freundlich enttäuscht werden, denn nachhaltige seelische Veränderungen brauchen Zeit und die aktive Mitwirkung des Patienten. Hier bedeutet dies, beim Musikhören eine wahrnehmende Aufmerksamkeitshaltung zu erlernen, die sich sowohl den inneren Vorgängen (körperliche Reaktionen, Gefühle, Gedanken, Erinnerungen) als auch der äußeren Realität (Musik) möglichst akzeptierend zuwendet. Gerade das, was „man weg haben will“, wird angeregt anzuschauen – und das möglichst frei von Erwartung oder Bewertung. Durch diese veränderte Haltung gegenüber Symptomen oder ängstigenden Gefühlen können sich im Laufe der Zeit seelische und körperliche Fehlspannungen regulieren („es reguliert sich“) und es kann eine größere Selbstkompetenz im Umgang mit seelischen Anforderungssituationen erlangt werden. Im klinischen Rahmen können im weiteren Prozess teil- und nicht bewusste Erlebnisinhalte zugänglicher und individuelle Abwehrkonstellationen bewusst werden. Dies ist der tiefenpsychologische Aspekt der RMT.
Wahrnehmungstraining mit Musik arbeitet nach dem gleichen Prinzip wie die RMT, doch zielt es nicht auf Teil- oder Nichtbewusstes. Wahrnehmungserweiterung und –differenzierung sowie die Entwicklung von Erlebnis- und Genussfähigkeit sind hier die zentralen Anliegen.
Die Musik hat dabei zwei wesentliche Funktionen: Zum einen ist sie eine Art Katalysator für die Anregung körperlich-geistig-seelischer Prozesse, zum anderen ist sie eine Art „Gegenüber“, eine klanglich-rhythmisch-dynamische Struktur, an der Wahrnehmungsfähigkeit trainiert werden kann. Diese Hinwendung nach außen ist keine Ablenkung. Sie hilft z. B. Menschen mit pathologischer Ich-Fixierung zur Wahrnehmungserweiterung oder Patienten mit starker emotionaler Labilisierung, die eine Hinwendung zu sich selbst (noch) nicht auszuhalten vermögen.
Das musiktherapeutische Konzept nach Schwabe befindet sich bis heute in einem fortwährenden Entwicklungsprozess, was zahlreiche Publikationen bezeugen. Sein Einsatzgebiet reicht weit über den klinisch-psychotherapeutischen Rahmen hinaus bis in soziale und pädagogische Arbeitsfelder.
So ist Musiktherapie gerade auch für Kinder, alte Menschen und Menschen mit Behinderungen ein wertvolles Angebot mit Alleinstellungsmerkmal.
(Text: Ulrike Haase)